Ganz kann nur werden, was zuvor ungleich war und es auch bleibt. So ist eine Ergänzung eben einfach nur ein bestmögliches Gegenstück. Was ineinandergreifen soll, kann nun einmal nicht vollkommen gleich sein. Ein Puzzle, das nur aus komplett gleichen Teilen bestünde, würde somit eben zwangsläufig zum Mosaik. Es sieht zusammengefügt schön und absolut stimmig aus – bildet im Zusammenspiel aller Steine miteinander ein vollendetes und harmonisches Ganzes.
Jeder einzelne Mosaikstein ist allerdings zunächst einmal oft nur bunt und schön anzusehen – und von den anderen Mosaiksteinen auf den ersten Blick kaum sicher zu unterscheiden. Aber: weckt ein auf diese Weise beliebiger „Mosaikstein“ mein wirkliches Interesse und meine Faszination genauso, wie dies eben ein einfaches und einzelnes Puzzlestück mit Leichtigkeit kann?
Bei einem Puzzlestück – vielleicht einem von 1000 Teilen – habe ich bei seiner Betrachtung oft nicht mehr als den Hauch einer Ahnung, wohin er gehört. Und dies allerdings auch nur dann, wenn ich mir zuvor ein Bild machen kann, was aus all diesen individuell unterschiedlichen Teilen einmal entstehen sollte – und, wenn es analytisch gut läuft, dann auch entstehen wird.
Jeder Mosaikstein und jedes Puzzlestück sind jeweils für sich gesehen „Einzelstücke“ – und nur im Sinne dieser Betrachtungsweise eben einander dadurch ähnlich. Ansonsten sind sie eher nicht zu vergleichen. Der Mosaikstein scheint für seinen ihm zugedachten Zweck eben eher „beliebig und glatt“, während das Puzzlestück eine auf seinen Verwendungszweck ausgerichtete – und eben daher unverzichtbare – von allen anderen Teilen abweichende Form aufweisen muss.
Beides kann und darf also für sich gesehen genauso sein und bleiben. Jedes für sich findet seinen ureigensten Sinn eben gerade miteinander in seinem Gefüge.
Vielleicht ist dies ein ganz gutes Sinnbild für die wohl lebenslange Gratwanderung zwischen dem Schein und dem tatsächlichen Sein, zwischen Wahrnehmung und Wunsch oder Ansicht und Ideal. Eben gerade für die Erkenntnis, dass alles nebeneinander in friedlicher Koexistenz bestehen kann und Unterschiede ihren Wert und ihren Sinn haben. Bestenfalls führt diese Betrachtung dann auch dazu, dass somit die inhaltlichen Auseinandersetzungen mit grundverschiedenen oder womöglich absolut gegensätzlich erscheinenden Menschen oder Dingen als erstrebenswert – vielmehr nahezu notwendig – zu sehen sind, wenn wir uns weiterentwickeln und neue Ansichten gewinnen wollen.
Es ist daher doch immer wieder erstaunlich und tatsächlich genauso verzichtbar, dass „zwei Menschen“ oftmals unbedingt ein vollkommenes „Ganzes“ sein oder werden wollen, wo es doch für jeden einzelnen schon schwierig genug ist, in jeder Situation mit sich selbst alleine bereits eins zu sein und zu bleiben.
Schönes – wie eben die einzelnen und dennoch eher beliebig erscheinenden Steine eines Mosaiks – erkennen und sinnlich erfassen zu können und gleichzeitig die Lust daran zu verspüren, auch jederzeit dem Wunsch und dem Drang in sich nachgehen zu wollen, scheinbar völlig unzusammenhängende und auf den ersten Blick nicht zueinander passende Dinge, die sich erst mit Mühe, Zeit und Anstrengung zu einem dem Auge schmeichelnden Ganzen zusammenfügen, genauso für sich wertzuschätzen – gerade das nenne ich Lebenskunst. Eben wenn auf diese Sichtweise aufbauend „spielerisch einfach“ das scheinbar Komplizierte geradezu leicht wird.
Ars Vivendi – eben die Kunst zu leben bzw. sein Dasein zu genießen.
Sermin Christina Orucoglu