Heute ist so ein Tag, an dem sich meine Gedanken mit einem Lächeln auf die Ursprünge richten. Es ist der 22. Februar und damit jährt sich der Geburtstag meiner Großmutter nun zum 104. Mal. Sie starb, als ich gerade sieben Jahre alt war, und sie ist auf dem Bild oben fast genau in dem Alter, in dem ich mich aktuell befinde: also etwa 54 Jahre alt.
Die Frage ist nicht, wie lange ein Leben andauert – es kommt darauf an, was man hinterlässt, einfach, weil man da war. Es kommt einzig auf die Qualität an – und manch einer fasst sich auf Erden eben leider kurz…
Als ich ein Kind war, begannen die Sätze meiner Oma – als Spiegel des Verhaltens – manchmal mit den Worten: „Wo kämen wir denn hin…“ Ein Satz, den wohl viele Großeltern dieser Zeit ihren Enkelkindern gerne weitergegeben haben als Einleitung zum Nachdenken.
Ich habe ihn oft gehört – vermutlich, weil ich diese Aufforderungen zur „Selbstreflexion“ auch einfach etwas mehr brauchte als andere Kinder. Ich sehe es heute als eine Art „Anregung“ meiner Oma, mich auch unbequemen Herausforderungen zu stellen. Ja: Wo käme ich wohl hin, wenn ich einfach mal etwas ausprobieren würde, statt mich von vorneherein auszubremsen und zu überlegen, wohin eine spontane Idee oder ein neuer Weg mich denn „schlimmstenfalls“ führen könnten?
Einfach machen und dann mal sehen. Herausfinden, was sich verändert, wenn sich Verhalten wandelt. Neugierig bleiben. Möglicherweise auch vorsichtig und etwas verunsichert an Neues herangehen, aber auch Freude und Optimismus bei aller Ungewissheit als Ausgangsbasis für eine neue Erfahrung ins „Marschgepäck“ packen. Einfach mal machen, einfach mal losgehen – ohne Plan, rein dem Gefühl folgen.
Und bei wie vielen Dingen dachte und denke ich noch heute: wer weiß, wohin es führt – ist es schlau, mich auf dieses Risiko, diese Unwägbarkeit einzulassen? Und ja, oftmals bleibt genau die Zeitspanne zwischen dem sich einen Augenblick lang öffnenden Türspalt und der kurzen Dauer, während die Tür dann leise, aber deutlich vernehmbar, langsam knarrend wieder zurück ins Schloss fällt, für eine Entscheidung übrig. Ein zu langer Moment des Zögerns, des Zauderns – und schon ist die Chance vertan. Klappe zu – Affe tot! – wie es so schön heißt. Was danach bleibt, ist die auf ewig unbeantwortbare Frage: Warum hast du nicht…? Hättest du doch mal… Vorbei! – unwiederbringlich abgelegt auf dem überfüllten Friedhof der vergebenen Möglichkeiten.
Aber: noch öffnet und schließt diese Tür sich doch immer wieder in einem ewig gleich langen zeitlichen Intervall – und dies wohl zu jeder Zeit und lebenslänglich – weil ich es in der Hand habe, in jedem Moment, selbst im vermeintlich letzten, den Fuß blitzschnell in den Türspalt zu stellen und meiner Gegenwart mit einem beherzten Schritt nach vorn für die nächste Zukunft eine völlig neue Richtung zu geben. Dieses Vertrauen zu haben, einfach mal etwas zu probieren und auf den „Bauch“ zu hören – ich glaube, das verdanken wir auch den Menschen, die uns Mut machen, einfach zu sein und uns auf uns selbst zu verlassen.
Und so nehme ich alle diese „Wo kämen wir denn hins…“ – die ich gehört habe, und es waren wie erwähnt viele in der doch nur recht kurzen Zeit, die ich mit meiner Oma verbracht habe, als „Dauereintrittskarte“ zu dem immerwährenden „Abenteuerspielplatz Leben“. Es bedarf eben nicht der Vorbedingung, dass ich weiß, was ich so genau will, sondern ich kann einfach der leisen inneren Stimme folgen, die mir sagt: „Hey, wachse doch einfach in dein Leben rein. Du hast doch Zeit, herauszufinden, wo es hingehen soll. Beschreite deine Wege und ziehe deine Bahn. Finde heraus, was dir guttut oder aber eben oftmals auch, was dir so nicht guttut. Lerne zu wollen, was du tust oder akzeptiere genauso bewusst, was du eben einfach überhaupt nicht brauchst, um dir selbst zu entsprechen.“
Ich bin nun inzwischen 53 Jahre alt – und ja, die Fragen und die Zweifel während der Entscheidungsphase: Traue ich mich oder lasse ich die Zeit verstreichen – die sind geblieben. Was sich mit zunehmendem Alter verändern kann, ist allerdings die natürliche „Reaktionszeit“: Die Tür fällt eben gefühlt „schneller ins Schloss“…
Und gerade heute, wenn ich über die Frage meiner Oma: „Wo kämen wir denn hin…?“ – nachdenke, glaube ich eine leise flüsternde und mir wohlvertraute Stimme zu hören, die mir sanft ins Ohr raunt: „Sermin, nicht so viel denken! Vertrauen und machen! Sei was du bist und werde, was du werden kannst! Sei dir selber nie genug, habe Mut und pass gut auf dich auf!“
Und ich höre, wie sich die offene Tür vor mir leise und allmählich halblaut langsam knarrend schließen will, stelle den Fuß blitzschnell entschlossen dazwischen, werfe mich durch den schmalen Spalt „auf gut Glück“ hindurch, um ein weiteres Mal herauszufinden, wohin ich wohl komme, wenn ich jetzt ganz einfach gehe…
Sermin Christina Orucoglu