„Am Anfang war die Würde“ – so titelte heute „die dpa“ zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes. Ja – die in der Überschrift gewählte Vergangenheitsform irritiert und mahnt doch wohl gleichzeitig auch zur Umsicht und zur Vorsicht.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar!“ – das war wohl der unverzichtbarste und elementarste „Leitgedanke“ der Gründerväter nach den leidvollen Erfahrungen, dem Entsetzen und dem Schrecken über die Gräueltaten, die der Nationalsozialismus in unvorstellbarer Weise mit sich gebracht hat.
Dieser Satz trägt Mahnung und Rührung gleichsam mit sich: dieser fühlbar beseelte Wunsch der Verfasser, dass nie wieder ein Mensch als Mensch in Frage gestellt werden darf, nur weil seine Herkunft, seine Religion, seine persönliche Weltanschauung, seine politische oder sonstige Orientierung jedweder Art möglicherweise nicht einer wie auch immer definierten Norm entspricht, unbequem ist oder aber der „Zeitgeist unserer Gesellschaft“ eine abweichende Meinung eben einfach noch nicht zulassen könnte.
Der Parlamentarische Rat, der dieses bis heute gültige Grundgesetz in seiner Urform verfasst hat, war noch sehr nahe dran an dem Empfinden und dem Bewusstsein, was es einen Menschen kosten konnte und kann, wenn Staat und damit auch Gesellschaft, ihm das zu nehmen bereit sind, was er als vielleicht einzigen wirklichen Besitz in einer Art von Geburtsrecht selbstverständlich mitbringt: seine persönliche und ihm als Mensch angeborene Würde.
Ist das heute gefühlt noch so? Ist die Würde des Menschen tatsächlich unantastbar? Fehlt bei so vielen Diskussionen, die wir führen, nicht oftmals die Basis, auf der man dem anderen und auch dem vielleicht ungeliebten Thema die Würde lässt?
Wie oft diskutieren wir alle sehr leichtfertig oder aber gedankenlos mit Worten und Gesten, die „anders Denkende“ kränken, ihnen wehtun, sie verletzten oder aber diffamieren können – gerade, wenn es hitzig wird und wir um Kompromisse an der Grenze zwischen unseren persönlichen Überzeugungen und dem Denken und den Interessen anderer ringen müssen.
Leider sind wir tatsächlich doch nicht immer in der Lage, den anderen „stehen zu lassen“, mit dem, was und wie er ist. Oft stellen wir irgendwann nicht mehr die Themen und sachlichen Inhalte in Frage, was ja ein hohes Gut der Demokratie ist, sondern gehen schnell dazu über, den „kompletten Menschen“ in seinem „da-sein“ und „so-sein“ oder aber vielmehr in seinem „einfach anders sein“ für falsch und damit inakzeptabel zu erklären.
Andere Meinungen, Haltungen und Bedürfnislagen verstehen zu wollen und zu können, die dazu zwingen oder dazu führen könnten, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die unbequem, schwierig oder aber auch nur „zeitraubend“ sind, führen in unserer schnelllebigen Gesellschaft oft zu einer vorschnellen Einschätzung, Be- oder Verurteilung oder sogar Ablehnung, ohne sich hierfür der Mühe einer inhaltlichen Befassung mit den Hintergründen und Argumentationen zu unterziehen.
„Daumen runter – Daumen hoch“; „gefällt mir – gefällt mir nicht“ – ein Spiegel unserer Zeit: schnell, digital und oft ganz anonym.
Wie oft liest man zu Anfang noch kritische Auseinandersetzungen mit Meinungen im Netz, die dann umschlagen in persönliche Beleidigungen und Diffamierungen oder aber dazu übergehen, das Recht auf eine Meinung des Kritikers überhaupt in Frage stellen: wie der schon aussieht; geh doch dahin, wo du herkommst; und so weiter und so fort…
Ja – 70 Jahre unseres zweiten Demokratieversuchs – und wir sind „Einwohner“. Wir haben uns eingewöhnt und eingewohnt in eine scheinbare Sicherheit, die uns das Grundgesetz und seine Grundaussagen zu den Themen Würde, Freiheit, Schutz und Recht geben, ohne das es einer Anstrengung unsererseits bedarf.
Wir sind bequemer geworden und vergessen oftmals, dass es auch unseres persönlichen Beitrags dafür bedarf, dass das Bekenntnis des Artikels 1 des Grundgesetzes, „dass die Würde des Menschen unantastbar ist“, in unserer ständigen Verantwortung liegt.
Wir reden seit einigen Jahren immer mal wieder von einer „Leitkultur“, die uns ausmachen könnte und der sich jeder in unserer Gesellschaft lebende Mensch dann auch im Sinne der Gemeinschaft in einer inhaltlichen Akzeptanz aus Überzeugung anschließen sollte.
Ich denke, dass zwei Artikel im Grundgesetz für unser eigenes wertschätzendes Handeln in diesem Bewusstsein vollkommen ausreichen würden:
Eben, dass „die Würde des Menschen unantastbar ist“ und die Kernaussage des Artikels 20, „dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht“.
Zusammengefasst ist die Umsetzung von einer gelebten Wertschätzung dann doch fast schon „genial“ einfach:
WIR begegnen einander so selbstverständlich, wie WIR es für den Umgang mit uns auch wünschen: in gegenseitiger Würde und mit dem jedem gebührenden Grundrespekt – weil schließlich aller Anfang WIR sind!
S. C. O.