Mut zum „Menscheln“…

Ich höre es in diesen Tagen immer wieder: wir haben ein „Werteproblem“. Politiker mahnen zur Übernahme von Verantwortung und zur Zivilcourage, während sich die Skandale, die völlig überraschend über uns alle hereinzubrechen scheinen, häufen.

Wir sollen „wachsam sein“ und kein „Fehlverhalten dulden“. Wir sollen Sorge dafür tragen, dass die Gesellschaft „keinen Schaden nimmt“ und füreinander einstehen, wenn ein anderer unserer Hilfe bedarf.

Mich würde interessieren, ob es in unserer politischen Führung ein Bewusstsein dafür gibt, was es für den „Einzelnen“ und sein Umfeld bedeuten kann, wenn er auf Missstände hinweist – was sich besonders verstärkt, wenn es sich um Fehlverhalten von Behörden und Institutionen oder aber Wirtschaftskonzernen handelt.

Ich habe diesbezüglich tatsächlich reichhaltige Erfahrungswerte sammeln dürfen – und kenne die „Mauern des Schweigens“, wenn nicht sein kann, was nicht sein darf und ein jeder nur das zugibt, was er nicht mehr „unter den Teppich kehren“ kann.

Vor sehr vielen Jahren hörte ich erstmals den augenzwinkernden Ausspruch, dass das „Tagesgebet“ eines Beamten sei: „Herr, lass mich nicht zuständig sein!“ Das war zu einer Zeit, als zunächst die Zuständigkeit für Vorgänge und Geschäftsvorfälle geprüft werden musste, um eine korrekte Bearbeitung starten zu können. Heute scheint es gerade bei der „Abwehr“ von kritischen Nachfragen oder Hinweisen auf Missstände eher den Umkehrschluss zu geben: „Meine Zuständigkeit muss man mir erst einmal nachweisen!“

Im Nachgang von Enthüllungen, die offenbar tatsächlich nur noch über die Medien stattfinden, stellen wir dann häufig fest, dass Informationen intern lange vorlagen, sie aber in dem Strudel von eigenen Befangenheiten, Angst vor dem Imageverlust oder falsch verstandener Loyalität, zunächst ignoriert wurden.

Bei den „Skandalen“ der letzten Monate – VW und das BAMF seien hier nur stellvertretend für viele vergleichbare genannt – geht es oft um Schäden, die Menschen und dem Sozialstaat zugefügt wurden.

Fast immer geht es jedoch um Hinweise auf die bestehenden Gefahren einer schleichenden und versteckten „Ent-WERT-ung“ unserer Gesellschaft und ihrer Regeln und Gesetze durch wenige – und dies oftmals aus wirtschaftlichen Gründen einzelner Nutznießer.

Ich wünsche mir einen Staat und eine Wirtschaft, die den mutigen Weg gehen, selbst auf die ihnen bekanntgewordenen Fehler – auch bei eigenen Verstrickungen – hinzuweisen und diese verantwortungsbewusst anzugehen und zu lösen. Hierbei sollten sie potenzielle Hinweisgeber ermutigen und fördern, statt sie für ihren Mut „reglementieren“ zu wollen. Nicht umsonst gibt es die Diskussion darüber, wie man die sogenannten „Whistleblower“ schützen sollte.

Ich finde es recht fragwürdig für uns als „Demokraten“, dass wir andere Länder und ihre Despoten – grundsätzlich durchaus berechtigt – für ihren Umgang mit Grundrechten und Werten oftmals so vehement kritisieren, es aber augenscheinlich nicht schaffen, mit der gleichen Klarheit auch innerhalb unseres Systems zu agieren.

Damit ich nicht missverstanden werde: Ich träume nicht von einem „gerechten“ Staat – das ist eine Utopie. Was ich jedoch erwarte ist die Gewährleistung von Rechtschaffenheit – dies braucht unsere Gesellschaft tatsächlich nötiger als einen vermeintlichen „Rechtsruck“ der demokratischen Parteien.

Ich wünsche mir mehr „Wahrhaftigkeit“ in diesen Zeiten. Ich möchte wieder feststellen, dass Behörden Fehler im Sinne von Irrtümern machen; dass Wirtschaftsbosse, Gewerkschaften und sonstige Institutionen und Gremien tatsächlich überrascht werden vom Fehlverhalten „Einzelner“ – und dieses konsequent und rückhaltlos aufgeklärt wissen wollen, weil die Integrität und das eigene Renommee als höchstes Kapital eingeschätzt werden.

Nicht die Fehler, die wir Menschen machen, sondern unsere Art, uns dazu zu bekennen und uns den Konsequenzen verantwortungsbewusst und situationsangemessen zu stellen, entscheidet darüber, wie wir und andere in der Folge miteinander umgehen und die Augenhöhe allen Disputen zum Trotz beibehalten können.

Wir reden so gerne vom Aufbau einer „Fehlerkultur“ und dem damit verbundenen Mut, Fehler zuzulassen und offenzulegen. Torpediert wird dieser Wunsch nach dieser sehr erstrebenswerten Ausrichtung jedoch oftmals von dem scheinbaren Widerspruch, dass Fehler zu haben – und diese dann womöglich auch noch einzugestehen – für viele einem „Gesichtsverlust“ gleichkommt.

Wenn das „Irren“ – wie uns der Volksmund dies nun schon über viele Generationen hinfort überliefert – nun mal „menschlich“ ist, dann wünsche ich mir eine Gesellschaft, die den Mut zum „Menscheln“ hat – und den Traum von „Perfektion“ aufgibt.

Vor die Wahl gestellt, was ich sein möchte und um mich herum bevorzuge: „Halbgott“ oder „Vollmensch“? – fällt mir persönlich die Antwort leicht.

S. C. O.