Die Spuren im Schnee von gestern…

Das einzige, was mich an Schneeflächen, seit ich erwachsen bin, wirklich noch begeistern und anrühren kann ist, wenn ich an einem Wintermorgen als allererste einen Spaziergang im frischgefallenen Schnee mache und dort meine Fußspuren stapfend und für alle Nachfolgenden des Tages sichtbar hinterlasse. Gleich dem tausendfachen Ausruf, den man dem einen oder anderen Graffiti, das an Wände gesprüht wurde, oft entnehmen kann: ICH war da! – vermutlich als eine Art von Signal an sich und die Welt, dass „man stattgefunden“ hat, eben „da war“! – Ein nun damit unübersehbarer und unauslöschlicher Teil des „Weltengedächtnisses“!

Okay – es handelt sich in meinem Falle um eine Schneedecke, die sich in absehbarer Zeit von selbst auflöst. So ist das nun mal mit dem „Schnee von gestern“. Und gleichfalls richtig: sobald weitere Menschen ihre Spuren darüberlegen oder ihrerseits ebenfalls unweigerlich Fußabdrücke hinterlassen, ist der „Zauber meiner ersten Spur“ vorüber. Es ist also wohl doch nur „ein Triumph des Augenblicks“ – könnte man denken…

Aber: Nein! Sie ist immer noch da, auch wenn es gleichfalls stimmt, dass das Bild der Fußspur sich augenscheinlich mit der Zeit deutlich verändert haben kann. Aber das schränkt doch meinen erlebten „Glücksmoment“ und seine Wirkung auf mich und meine künftige Erinnerung daran überhaupt nicht ein.

Es ist nicht notwendig, dass alles das, was mich begeistert und fasziniert, so bleibt, wie es in dem Augenblick war, als der Eindruck entstand. Auch ist es nicht relevant, dass sich Dinge möglicherweise so deutlich verändern oder verändern werden, bis sie vielleicht kaum noch oder gar nicht mehr für mich sichtbar sind. Das einzige was wirklich zählt, ist der Eindruck, den etwas oder auch jemand auf mich gemacht hat – und dieser kann sich zwar verwischen lassen, bleibt aber unwiderruflich Teil meines Lebens und damit des Wirkens auf mich – bis ans natürliche Ende meiner Erinnerungsfähigkeit.

Ja, eines macht mir dieses Bild der „Fußspur im ersten Schnee“ klar: Vieles von dem, was uns prägt und seine Eindrücke auf und in uns hinterlässt, muss nicht immer sofort sichtbar bzw. nicht immer auf den ersten „Blick zurück“ wieder sofort deutlich zu erkennen sein. Oft bedarf es längeren Nachdenkens oder aber einer „zufälligen Erinnerung“ an längst irgendwo in uns abgelegten Geschichten, Begebenheiten und Begegnungen, um eine unverstellte Sicht auf Augenblicke und deren Bedeutung für uns und unser Denken, Handeln und Fühlen zurückzugewinnen.

Jeder erste Eindruck von etwas oder jemandem auf uns ist und bleibt einzigartig und jede spätere gedankliche Veränderung, jedes Verdrängen und jede zeitliche Entfernung von Menschen und Dingen die uns prägten, sind nur eine Art von Verpackung, die wir darumlegen, um uns mit dem Geschenk des „sich Wiedererinnerns“ an Begegnungen, Augenblicke und allem, was Spuren in uns hinterlassen hat, zu jeder Zeit selber überraschen können.

Der Gewinn dieser „Rückschau“ liegt nicht in einer Art von Sentimentalität, in die „gute, alte Zeit“ zurückkehren zu wollen, sondern vielmehr darin, eine Zeitreise in das damalige Gefühl des Moments zu unternehmen, um dem Erlebten so „verwandelt“ seinen ihm gebührenden Platz in meiner Gegenwart zuweisen zu können.

Und so ist für mich als „selbsterklärtes Sommerkind“ gerade im Winter der tröstende Lichtblick für die Dauer dieser Jahreszeit, dass alles, was vergangen ist, nun einmal immer wieder neu beginnen muss, damit es letztlich auch verändert bleiben kann… ?

S. C. Orucoglu