Es gibt besondere Tage, die uns ein Leben lang präsent sind, an denen „man“ eben einfach weiß, was heute für ein Tag ist. Der 13. März ist für mich so ein Tag. Es ist der Geburtstag meines Großvaters Kurt Powels. Ja – klar, die überwiegende Zeit meines Lebens „verbringe“ ich den Tag schon sehr lange ohne ihn und doch: er wirkt weiter und ist damit irgendwie geblieben. Wenn ich an ihn denke, glaube ich, dass ich ihm die Liebe zu allem „Unperfekten“ verdanke. Und: Nein – leicht konnte er wohl gleichfalls nicht!
Gab es überhaupt einen „Bruch“, einen Widerspruch, den er nicht mit sich getragen hat?
Er stammte aus Königsberg, war ein Berufskraftfahrer mit einer „Rot-Grün-Schwäche“ – also umgangssprachlich farbenblind – und ein sehr begabter Musiker, der in die Hölle des Krieges ziehen musste. Meine Mutter sagt, dass er Marschmusik mochte – und da bin ich gedanklich raus! Ich liebe – genau wie er – die Musik. Aber absolut verzichtbar sind für mich gerade Märsche und volkstümliche Musik.
Marschmusik erinnert mich tatsächlich nur an Feldzüge und Kriege, in denen Menschen in meiner Vorstellung einer Melodie und einer Ideologie gleichsam beschwingt folgen – etwas, das ich aus tiefster Seele nicht übereinander bringe. Wer die Musik liebt, liebt das, was Musik ausmacht: die Harmonie, die uns in einen Bann ziehen und fesseln kann; das Licht, das sie in der Seele anzuzünden vermag; ein Verstehen oft ohne Worte, das das Herz erwärmt und die Macht, die sie gleichzeitig ausübt, wenn ich selbst bei Musikarten, die ich überhaupt nicht toll finde, merke, dass ich automatisch im Takt mit den Füßen wippe und ich dann oft achselzuckend und schmunzelnd hinnehme, dass ich mich, auch allem „Nichtgefallen“ zum Trotze, der Wirkung auf mich nicht einfach so entziehen kann.
Und doch glaube ich langsam mit der wachsenden Zahl meiner Lebensjahre und den damit verbundenen Erkenntnissen und Erfahrungen auch mehr und mehr verstehen zu lernen. Vielleicht, so denke ich mir, war das für meinen Opa gerade auch der einzige Trost: der Musik folgen zu können – durch den Krieg und seine Schrecken; durch die daran anschließende Kriegsgefangenschaft in Sibirien. Er soll eine schöne Stimme gehabt haben und hat mehrere Instrumente gespielt. Wie er meiner Mutter erzählte, hat er wohl auch in der Gefangenschaft singen und spielen „müssen“ – auf Wunsch der „Lagerkommandanten“ und der Mitgefangenen.
Er hat ansonsten wohl sehr wenig über diese Zeit gesprochen – wie viele eben unfähig waren, das Grauen in Worte zu fassen. Eben ein Angehöriger einer „verlorenen und sich selbst überlassenen Generation“. Wie schwer wiegt die Last des Schweigens? – frage ich mich oft. Wie konnte es ein musischer Mensch ertragen, zu kämpfen, um selbst zu überleben? Ein Mensch, den ich nur liebevoll und geduldig erlebt habe und der es verstand, mir das Gefühl zu geben, dass ich genauso wie ich war, richtig war. Nur das – und dessen bin ich mir erst heute bewusst – ist das, was mich trägt und mich impft für die schwierigen Zeiten im Leben: zu wissen, dass wir nichts beweisen müssen, um geliebt zu werden – wir müssen nichts scheinen und dürfen einfach nur sein! Manche Geschenke nehmen wir wohl beiläufig, fast wie im Vorübergehen, mit und entdecken ihre Bedeutung für uns oft erst sehr viel später.
Und ja: dann wird mir klar, wie schwer es für ihn gewesen sein muss, gegen sein Gewissen zu handeln, womöglich töten zu sollen und gleichzeitig um das eigene Überleben zu kämpfen, mit dem Grauen des Krieges über die Tage zu kommen und zu versuchen, seine Seele dennoch vor den deutlichen Gebrauchsspuren zu schützen.
Wie häufig, so frage ich mich gerade, kann die Seele wohl ihre Tode auf Raten sterben – unsichtbar für die Augen der anderen. Und dann rührt sich in mir ein ganz klares Gefühl, das denjenigen einhüllt, der die Wahl nicht getroffen hat, der die Freiheit nicht hatte, zu sagen: „Nein, danke! Macht das mal ohne mich!“
Und ich denke, während ich dies nun schreibe, dass es ein Geschenk ist, frei entscheiden zu dürfen. Wie oft mache ich es mir zu leicht, wenn ich mir ein ums andere Mal einreden will, dass ich manche Dinge nicht selbst entscheide. Wie häufig meine ich eher: es ist nicht leicht – und ich staune dann im Nachhinein, wenn ich es einfach versuche und merke, dass das genau der Weg ist: wir lernen, weil wir etwas probieren. Wir lernen einfach – wie die Kinder: solange fallen und aufstehen, bis wir immer sicherer gehen.
Und ich habe gelernt, „fünfe gerade sein zu lassen“, und zwar von dem Menschen, dem ich heute mit einem Lächeln ganz bewusst viele schöne Momente meines Lebens widmen will – und dem ich verspreche, an den allermeisten Tagen auch zukünftig für ihn glücklich sein zu wollen. Ein Geschenk, über das sich mein Opa sicher gefreut hätte und das seinen Wert für mich schätzend dann auch wieder zu mir zurückkehrt… ?
Sermin Christina Orucoglu