Vom Kennen, das eher ein Ahnen ist

„Ganz schön Morgenstern – ein fantastisches Lesevergnügen“ – so lautet der Titel des Buches, das eine sehr gute Auswahl von Auszügen aus dem Werk von Christian Morgenstern enthält. Für mich ist er als Schriftsteller zeitlos und modern – gerade was die Themen sowie die Aussagekraft seiner Gedanken und Worte betrifft. So lässt der Blick in das Buch einen guten Start in den Sonntag erwarten und regt zum eigenen Nach- und Weiterdenken an.

Es geht mir mit dem Dichter Christian Morgenstern immer wieder so, wie er es einmal über die zwischenmenschlichen Beziehungen insgesamt wohl gewohnt kurz und treffend auf den Punkt gebracht hat:

„Einander kennen lernen, heißt lernen, wie fremd man einander ist.“

Ich finde, dass man, sobald man diesen Satz liest, doch erstmal irritiert stutzt, um dann jedoch schnell festzustellen, dass man sich des Nachdenkens über diese Kernaussage offenbar kaum entziehen kann. Es stimmt: hier sind wir sprachlich und von der Bedeutung her komplett auf dem Holzweg – und offen gesagt auch recht anmaßend. Denn das einander Kennenlernen sagt doch bereits aus, dass hier durchaus Arbeit und zeitlicher Aufwand notwendig sind. Es ist nicht mehr und nicht weniger als ein gemeinsames Erfahrungslernen im Umgang und Austausch miteinander. Wir sind auch hier – jeder einzelne für sich – ewige und lebenslange Schüler in um uns herum wechselnden „Lerngruppen“, die jeweils über eine Mindestanzahl „ab zwei Personen aufwärts“ verfügen.

Selbst von meinen engsten Freunden könnte ich nicht wirklich mit absoluter Sicherheit sagen, wie sie über etwas denken, wie sie handeln oder auf irgendetwas reagieren würden. So nahe wir uns auch immer fühlen: wir sind und bleiben immer eigenständige Persönlichkeiten und lernen immer wieder neue oder bisher unbekannte Facetten aneinander kennen. Das ist doch aber auch das wirklich Tragende und Spannende an allen Formen von „zwischenmenschlichen Beziehungen“:  Sie leben von dem gegenseitigen Interesse aneinander; sehr viel Vertrautheit und Verständnis; der Flexibilität, in der Sicht auf den jeweils anderen bei neuen Erkenntnissen immer wieder umdenken zu können und – nicht zuletzt – natürlich auch von der Existenz einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von für alle Beteiligten nahezu unsichtbaren „blinden Flecken“, die jeder von uns – oftmals für sich und andere lange nicht erkennbar – mit und in sich trägt.

Tatsächlich behaupte ich auch oft, dass ich irgendetwas oder aber eine Person „kenne“. Oftmals konkretisiere ich es im Brustton der Überzeugung noch mit: ich kenne jemanden gut oder ich kenne jemanden lange. Und hier hat Morgenstern ganz ohne Zweifel recht: ich ahne maximal den Menschen hinter alldem, was ich zu wissen und zu sehen glaube.

Aber: kann das überhaupt anders sein? Was weiß oder kenne ich denn selbst schon sicher von mir und meinem „Sein und Handeln“?  Ganz klar einschätzen zu können, wer oder was ich bin, wofür ich stehe oder stehen will, fällt doch sogar dann bereits schwer, wenn ich hierfür nur den jetzt stattfindenden Moment in der Gegenwart bzw. die eigene erlebte Vergangenheit in der Rückschau betrachte und daraus meine Schlüsse ziehe.

Auch ich ahne mich und das, was ich bin oder im nächsten Moment in der Zukunft sein werde oder sein möchte, doch eher in der Spiegelung des Erlebten und Gelernten. Ich stelle vielmehr reine Vermutungen darüber an, wie ich handeln würde und woran ich mich messen lassen möchte.

Versinnbildlicht stehe auch ich also manchmal vor einem fast blind geworden Spiegel und kann auf den ersten Blick kaum genug klare Punkte erkennen, an denen ich definitiv festmachen könnte, dass das Spiegelbild, von dem ich nur Bruchstücke sehe, tatsächlich eindeutig zu mir gehört. Unwillkürlich reibe ich eifrig an der Spiegeloberfläche und versuche, die blinden Stellen wieder zum Glänzen zu bringen – was tatsächlich oftmals wohl nur unzureichend gelingt. Und doch reicht es mir dann offensichtlich aus, dass ich die „Funktionsweise“ eines Spiegels generell kenne: Wenn ich allein davor stehe und nichts und niemand den „Blick verstellt“, reicht dieses Wissen aus, um zu glauben, dass die Person, die ich im Spiegel nur bruchstückhaft sehe, nur ich selber sein kann. Ohne jeden Zweifel – mit absoluter Sicherheit!

Es ist also wohl doch leichter, als ich zunächst dachte: Ich kenne jeden eben so gut, wie ich mich selber ahne. Und das sollte mir wohl auch vollkommen ausreichen. Schließlich überrasche ich mich selber auch immer wieder – und möchte von anderen gleichfalls weiterhin überrascht werden können. Natürlich enttäusche ich mitunter mich und andere – gleichwohl ich auch anderen zugestehen muss und will, mich enttäuschen zu dürfen. Wir leben in einer Welt, die auf dem Grundprinzip der Gegensätzlichkeiten beruht. Demnach gibt es alles im Moment für uns Sichtbare oder Vorhandene nur um den Preis bzw. den Verlust einer anderen Polarität. Wer das Licht liebt, muss auch mit der Dunkelheit klar kommen können und wer den Wert der Liebe begreifen will, bedarf dazu des Wissens um die Existenz von Gleichgültigkeit, die anstelle des vielfach als Gegenpol angeführten Hasses wohl eher das Gegenteil von Liebe darstellt.

Ich nehme mir ab heute bewusst vor, mir künftig die Freiheit zu lassen, auf Fragen, ob und wie gut ich jemanden oder etwas Bestimmtes kenne, vage antworten zu dürfen. Schließlich glaube ich sicherlich weiterhin oftmals, einen Menschen oder eine Sache recht gut zu kennen, aber sehr sicher vermute ich mehr denn je, dass ich ihn – wenn auch nur im Ansatz oder einer Art Momentaufnahme – wohl doch nur ganz gut erahnen kann.

Sehr sicher stelle ich jedoch, während ich über mein Umfeld nachdenke, deutlich fest, dass ich die Menschen, die mir nahestehen und die jeder für sich für mich unverzichtbare Teile meines Lebens und meiner Gedankenwelt sind, auf alle Fälle sehr gerne kenne – unabhängig von völlig irrelevanten Zeitbegriffen oder Bewertungen.

Vielleicht sind ja bereits schon der Entschluss und seine Herleitung ein Stück weit „ganz schön Morgenstern“ – zumindest für gerade jetzt und für heute und für mich… ?

S. C. O.