Es bleibt, wer sich in unsere Seele schreibt

Heute jährt sich zum 135. Mal der Geburtstag meines Urgroßvaters, Karl Krüger, der am 09.04.1888 in Martinowka, Wolhynien geboren wurde und bereits im Alter von gerade einmal 27 Jahren in Westflandern/Belgien gefallen ist.

Ich fand es merkwürdig, als ich das erste Mal als Kind hörte, dass der Vater meiner Oma „gefallen“ ist. Gefallen – das klingt auch heute noch für mich so skurril. Kann man so extrem „hinfallen“, fragte ich mich damals, dass man daran sterben kann und es wie eine Art von Todesursache als Grund für das Ableben benannt wird? Ich stellte in meiner Kindheit des Öfteren fest, dass sich viele Erwachsene gleichfalls über tote Kriegsteilnehmer des 2. Weltkriegs unterhielten, die eben genauso kurzgefasst in den Erzählungen „gefallen“ sein sollen. Ich fand es irgendwie bizarr, dass auf diese Aussage hin auch fast nie nachgefragt wurde, wie der Betroffene zu Tode kam, sondern es einfach so als Erklärung auszureichen schien.

Ich fand damals die Vorstellung, einfach so durch „Fallen“ sterben zu können, sehr irritierend. Fallen klang für mich so, als ob dem Fall eine Art stolpern vorausging. Also stolpern, hinfallen – hoppla: tot?! Skurrile Vorstellung, aber: Was weiß ein Kind schon wirklich über „den Tod“ und seine möglichen Ursachen?

Seit ich diesen Ausdruck mit zunehmendem Wissen einordnen konnte und die persönliche Tragik des einzelnen Betroffenen und seiner von diesem „Fall“ mitbetroffenen Angehörigen zu kennen glaube oder aber nur ahnen kann, erscheint es mir zynisch, einen solchen verharmlosenden Begriff für ein gewaltsam herbeigeführtes Lebensende im Rahmen einer kriegerischen Auseinandersetzung zu verwenden. 

Ein Krieg und das damit verbundene Blutvergießen war und ist zu jeder Zeit der Geschichte immer ein Akt sinnloser und durch keinen politischen oder ideologischen Zweck zu rechtfertigender Gewalt. Es ist eine uns selbst vernichtende Bankrotterklärung für unsere sogenannte Zivilisation und führt unsere Entwicklungsschritte auf dem Weg zur eigentlichen Menschwerdung ad absurdum.  Was wir immer wieder aufs Neue erkennen können, ist die Tatsache, dass ein Kriegstoter auf zynische Weise immer sowohl Täter, als auch gleichzeitig Opfer dieser Kriegshandlungen ist, da jeder Kriegsteilnehmer im Verlauf des Krieges durch Töten oder Gewaltanwendung seine persönliche Unschuld verliert – selbst dann, wenn er sein Leben verteidigt gegenüber einem anderen, der wiederum dasselbe für sich in Anspruch nimmt. Mögen die Gründe für Kriege auch noch so unterschiedlich sein, wie die Zeit, in der sie entstehen, so sind die Abläufe erschreckend wiederkehrend immer gleich. 

Und so denke ich heute zurück an einen Mann, der am 22.02.1915 Vater meiner Großmutter, Else Krüger, geworden ist und der am 10.03.1915 zum Militärdienst eingezogen wurde. Es blieben dazwischen knapp 2 Wochen, um sich kennenzulernen und dabei zu wissen, dass es fraglich ist, ob ein Vater sein Kind aufwachsen sieht. Aber es reichte zeitlich aus, damit eine Tochter ihrem Vater ans Herz wuchs.

Mein Urgroßvater muss ein für diese Zeit sehr liebevoller und fürsorglicher Vater gewesen sein, denn er hinterließ seinen insgesamt 3 Kindern an diese gerichtete Briefe, für den Fall, dass er den Krieg nicht überleben wird.

Meine Großmutter und ihre beiden Geschwister haben diese Briefe erhalten, da mein Urgroßvater am 22.10.1915 tödlich verwundet wurde. Meine Großmutter und ihre Familie hatten einige Umzüge und eine Flucht aus Königsberg/Ostpreußen hinter sich bringen müssen und den Brief gibt es schon sehr lange nicht mehr. Wie es Benjamin Franklin einmal sagte. „Dreimal umziehen ist wie einmal abgebrannt.“  Dies galt in diesen Zeiten unter diesen Bedingungen wohl noch viel mehr. 

Und obwohl der genaue Inhalt dieses Briefes meines Urgroßvaters an meine Großmutter lange nicht mehr nachzulesen war, reichte es doch aus, zu wissen, dass für ihren Vater, den sie nie bewusst kennengelernt hatte, da sie genau 10 Monate alt war, als er „fiel“, genügte zu wissen, dass es sie gab, um sie seiner Liebe zu versichern und ihr dieses ideelle Geschenk zu machen, dass ihr deutlich machte: „Du bist wichtig und du wirst von deinem Vater geliebt, weil du da bist – also einfach, weil es dich gibt.“

Zu wissen, dass es einem Vater wichtig war, dass diese Liebesbekundung nicht „totgeschwiegen“ wird, sondern auch das Leben meines Urgroßvaters überdauert, muss für sie eine sehr große Bedeutung gehabt haben.

„Wer schreibt, der bleibt!“ – heißt es oft als geflügeltes Wort in unserem Sprachgebrauch. In diesem Falle ist der Text nicht überliefert, den mein Urgroßvater, Karl Krüger, meiner Großmutter wie einen Schatz hinterlassen hat, aber er hatte sich auf ewig in ihre Seele hineingeschrieben und bewiesen, dass sie für ihn besonders war. Selten genug haben wir das Glück, erkennen zu können, dass Liebe und Ewigkeit aus demselben Stoff sind und ich bin sicher, dass aus Kindern, die sich geliebt wissen, liebende Erwachsene werden können.

Somit bin ich als Enkelkind auch eine Nutznießerin gewesen, von dem, was mein Urgroßvater dagelassen hat, als er sich Zeit für seine Briefe nahm. Und daher wünsche ich meinem Urgroßvater zu seinem heutigen 135. Geburtstag und weit darüber hinaus, Frieden und wünsche mir, dass wir den Tod eines Vaters, der zum Soldat werden musste, nie wieder so „verniedlichen“, sondern die Gewalt dahinter beim Namen nennen.