Heinrich Heines Gedicht „Nachtgedanken“, entstanden im Jahr 1843, beginnt mit den Worten: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht…“ – und heute, im Jahr 2018, sitze ich hier – und reibe mir erstaunt die Augen.
Ich sehe die heutigen Nachrichten und höre von Erleichterung, weil Horst Seehofer von seinem Rücktritt zurücktritt. Es schein in der Union und in der Koalition zunächst einmal ein kleines Aufatmen zu geben – und ich schüttele einfach nur noch den Kopf.
Wäre es jetzt nicht an der Zeit, dass einmal die Eitelkeiten, Befindlichkeiten und das Kalkül zurücktreten? Können „wir“ uns nicht einmal alle zusammenreißen und uns auf das konzentrieren, was unser Land und seine Menschen umtreibt, ihnen Angst macht, sie verunsichert und ihnen oftmals auch das Sicherheitsgefühl nimmt?
Ich persönlich möchte nicht ständig über „Lager“ hören und lesen, in denen Menschen eingepfercht werden – egal, was die Gründe hierfür sind und sein sollen. Es nimmt den Menschen die Würde: denen, die darin leben, und denen, die von draußen reinsehen. Man kann über die Flüchtlingssituation sicherlich sehr unterschiedlich denken und diskutieren, aber meine Erwartungshaltung ist, dass wir nicht vergessen, dass wir von und über Menschen sprechen – und dies gebietet zumindest einen Grundrespekt.
Ich verstehe viele, die in soziale Nöte geraten oder diese für sich befürchten – denn unsere Gesellschaft ist im Umgang miteinander distanzierter und kälter geworden. Die wirtschaftliche Unsicherheit, die „Umkehr der Alterspyramide“, die politische Situation – innen und außen – lassen viele Menschen gerade sehr pessimistisch oder auch sorgenvoll in die Zukunft sehen.
Ich wundere mich zunehmend, wie sehr wir aber zeitgleich zu verlernen scheinen, miteinander zu reden, aufeinander zuzugehen und uns mehr und mehr oftmals nur noch „minimalistisch“ in den „sozialen Medien“ austauschen, in denen verkürzte Texte immer zu mehr Problemen beizutragen scheinen, als zu deren Lösung. Wir beklagen die Oberflächlichkeit, den Werteverlust und vielfach auch das fehlende „Mit- und Füreinander“.
Ich sehe dabei mit wachsendem Unmut und Erstaunen, was die Politik und die Wirtschaft diesen Entwicklungen entgegensetzen – oder auch eben nicht.
Ich mache mir manchmal einen „Spaß“ daraus – wenn im Fernsehen Politiker sprechen, die ich zunächst keiner Partei zuordnen kann – die Augen zu schließen, ihnen zuzuhören und für mich zu raten, welcher Partei diese wohl angehören. Nach meinem Gefühl ist dies sehr schwierig geworden, denn es scheint sich eine gewisse „Beliebigkeit“ und „Anpassung an den Zeitgeist“ oder ein in manchen Situationen ganz offenbares „dem Wähler nach dem Mund reden“ eingeschlichen zu haben.
Ich vermisse die Politiker, deren Haltung ich nicht immer nachvollziehen konnte oder wollte, die aber unverwechselbar und klar in ihren Positionen und Ausrichtungen waren. Sie standen „für etwas“; sie zeigten „Flagge“; bezogen inhaltlich Stellung – vielleicht oftmals allen Befürchtungen vor dem Urteil und der Kritik anderer zum Trotze. Es gab sogar sehr viele, die wohl eher bewusst „polarisierten“, als unkritische „Lieblinge der Massen“ zu sein. Auch ein Stück „Zeitgeist“, das Schlagwort „Klasse statt Masse“ – irgendwann ist dies wohl nicht nur sprachlich leider mehr und mehr aus dem Alltag verschwunden.
Ich frage mich gerade in diesen Tagen, ob es einen Zusammenhang damit gibt, dass so viele Politiker aus den Anfängen unserer noch immer sehr jungen Demokratie nun – ihrem Lebensalter geschuldet – die politische Bühne verlassen haben. Eine Generation, die noch wusste, wie es ist, wie es sich anfühlt und was es für Leiden mit sich bringt, wenn Grundrechte fehlen, Freiheiten eingeschränkt sind und Angst, Willkür und im schlimmsten Falle auch Kriege und Flucht zum Alltag gehören.
Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die…
… Politiker hat, die unsere „Staatsgemeinschaft“ anführen und die das Wohl und die Verantwortung für diese über ihre „individuellen Parteiziele“ stellen.
… eine Wirtschaft ihr Eigen nennt, für die ein freier und fairer Wettbewerb selbstverständlich ist und das dazugehörige Streben nach maximalem Gewinn nicht über die Interessen der Gemeinschaft gestellt wird.
… ihre Institutionen und sozialen Verbände bewusst stärkt, damit diese sich für Benachteiligte einsetzen und ihre Stimme für die erheben können, denen dies alleine nicht möglich ist.
… von ihren Kindern wieder das erlernt, was sie diesen von Generation zu Generation immerfort überliefert – und im eigenen Alltag der „Erwachsenen“ so oft selber wieder zu vergessen scheint, nämlich die goldene Regel: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“.
Leo Tolstoi wird der Ausspruch zugeschrieben: „Die Achtung hat die Welt erfunden, um den leeren Raum zu verschleiern, den die Liebe ausfüllen sollte.“
Vielleicht ist das doch schon ein guter Ausgangspunkt für uns alle: was wir auch immer sagen und machen mit einer konsequenten Ausrichtung auf die „Achtung“ eines bzw. des anderen zu begleiten.
Wie gesagt: einfach nur mein „kleiner Sommertagtraum“…
S. C. O.